Versuche, einen endlos langen Spinnfaden aus dem Grundstoff aller Pflanzen, der Cellulose herzustellen, reichen bereits in das 17. Jahrhundert zurück. Man erhoffte sich eine Faser, die in ihren Fasereigenschaften dem Seidenfaden der Seidenraupen entspricht (Réaumur, HOOKE). Mit der Entdeckung des Vielfachzuckers Cellulose war ein vielversprechender Ausgangsstoff gefunden worden, der durch chemische Modifikationen schließlich als Endlos-Spinnfaden zur Herstellung von „Kunstseide” verwendet werden konnte. Die ersten Patente erhielt Swan 1883 und 1884, der Fäden von Cellulosenitrat durch Ausspritzen aus konzentrierter Essigsäure herstellte und Fäden für die aufstrebende Glühlampenindustrie produzierte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren schließlich technisch ausgereifte Verfahren etabliert (Viskoseverfahren, Kupferseideprozess), die eine industrielle Verarbeitung der „Kunstseide“ ermöglichten.
Der Grundgedanke des Kupferseideprozesses ist es, eine synthetische Textilfaser aus dem Grundbaustein aller Pflanzen, der Cellulose, herzustellen. Der Vorteil dieser Faser ist, dass sie, im Gegensatz zu den natürlich vorkommenden Fasern (Baumwolle, Flachs, Leinen), in ihrer Form fast willkürlich veränderbar ist. Die Faser kann nämlich in ihrer Länge, ihrem Durchmesser, ja sogar zu einer Hohlfaser verändert werden. So kann man auch eine Folie aus Cellulose herstellen, die in der Medizin als wichtige Membran bei der Blutwäsche dient.
Die geschichtliche Entwicklung des Kupferseideprozesses begann man mit dem Gedanken, den edlen, glatten, von der Seidenraupe gelieferten endlosen Faden künstlich herzustellen. Dies wurde schon im Jahre 1734 von Réaumur geäußert, der hierfür Gummilösungen als Ausgangsmaterial vorschlug. Schon Hooke veröffentlichte in Jahre 1665 ein naturwissenschaftliches Werk über mikroskopische Beobachtungen an Gegenständen aus der Natur.
Eine Faser herzustellen, die in ihren Eigenschaften der Naturseide möglichst gleicht, war das Bestreben der Wissenschaftler. So wurden Versuche unternommen, aus Gelatine, Kasein und Albumin Fasern zu produzieren, doch waren diese in ihren Eigenschaften nicht brauchbar. Das Problem hierbei war, die Naturseide ein Protein nachzubilden. Diese künstliche Proteinsynthese gelang aber nicht in befriedigendem Maße.
Erst durch Entdeckung von Cellulose als Ausgangsmaterial für die Herstellung von Kunstseide eröffnete sich ein Weg, künstliche Fasern herzustellen. Cellulose stellt nun aber einen Vielfachzucker dar. Im Gegensatz zur Naturseide (Protein), die aus einzelnen verschiedenen Aminosäuren aufgebaut ist, setzt sich die Cellulose aus vielen gleichen Einheiten von Glucose zusammen. So ist es irreführend, die künstlich aus Cellulose hergestellte Faser als Kunstseide zu bezeichnen, denn Cellulose grenzt sich als Kohlenhydrat deutlich von den Proteinen ab. Die Fasereigenschaften der Cellulosefasern gleichen aber vor allem im Faserdurchmesser der Naturseide. Dadurch sind Anstrengungen, aus Cellulose eine brauchbare, verspinnbare Faser künstlich herzustellen, damit begonnen worden, Nitrocellulose, ein Derivat von Cellulose, in Lösung zu bringen.
![]() |
Von da ab waren es zunächst die viskosen Lösungen der Nitrocellulosen, sowie die Schweizerschen Lösungen, die die Erfinder auf das Gebiet der Herstellung von Fäden aus Cellulose als der Bausubstanz vieler natürlicher Fasern hinwiesen. Die ersten ernsthaften Versuche zur Herstellung von Kunstfäden wurden fast gleichzeitig von Swan in England und dem Grafen Chardonnet in Frankreich etwa zwischen 1880 und 1885 unternommen. Für Swan handelte es sich zunächst um die Gewinnung von Kohlefäden für elektrische Glühlampen; er erhielt 1883 und 1884 zwei Patente auf die Herstellung von Fäden durch Ausspritzen einer Lösung von Cellulosenitrat in konzentrierte Essigsäure. Schon 1885 hatte dann Swan ein Verfahren zur Denitrierung der Nitrocellulose mit Ammoniumsulfid-Lösung entdeckt, wodurch die schlimmen explosiven Eigenschaften verschwanden. Im Gegensatz zu Swan ging Chardonnet von vornherein auf die Herstellung einer Textilfaser aus, indem er Nitrocellulose (gelöst in Ether und Ethanol), das sogenannte Kollodium, verwendete. Sein Verfahren legte er 1884 in einem versiegelten Schreiben bei der französischen Akademie nieder. |
Abb. 20: Auszug aus Originaldokument [Jäckel und Risch 1988] |
Graf Chardonnet gilt heute als der Begründer der Kunstseidenindustrie. Zum ersten Male führte er auf der Weltausstellung in Paris 1889 die Herstellung seiner Kunstseide vor. Es erwies sich auf die Dauer als unmöglich, die schon von Swan angewendete Denitrierung zu umgehen, trotzdem durch diese eine erhebliche Schwächung, sowie ein großer Gewichtsverlust des ursprünglichen Nitrocellulosefadens hervorgerufen wurde; jedoch gelang die Beseitigung der Explosivität, bis auf den heutigen Tag, durch kein anderes Verfahren.
Auch in Deutschland ging der Weg der Kunstseide über die Glühlampenfabrikation. Hier stellte die Rheinische Glühlampenfabrik Fremery & Co in Oberbruch bei Aachen etwa seit 1892 Glühlampenfäden aus Celluloselösungen in Kupferoxydammoniak her. Frühere Versuche von Weston in England (1882) und Despaissis in Frankreich 1890 waren ohne Folgen geblieben. Die deutsche Fabrik nahm unter dem Decknamen Pauly im Jahre 1897 das erste grundlegende Patent für die Kupferseidenherstellung, dem viele andere Patente von Fremery und Urban sowie von Bronnert folgten.
Inzwischen wurden auch in England die Bemühungen zur Entwicklung neuer Kunstseideverfahren von Erfolg gekrönt, indem im Jahre 1891 Cross, Beyan und Beadle die Reaktion der Alkalicellulose mit Schwefelkohlenstoff unter Bildung einer wasserlöslichen Verbindung, die Grundlage des weltumspannenden Viskoseverfahrens, bekanntgaben. Von Stearn wurden 1898 Lösungen von Ammoniumsalzen als Fällbäder vorgeschlagen. Diese Taten der englischen Erfinder erhielten in den ersten Patenten auf die Herstellung von Celluloseacetaten im Jahre 1894 eine wichtige Fortsetzung.
Der technische Erfolg war freilich erst Lederer 1899, sowie 1901 den Farbenfabriken Friedr. Bayer & Co beschieden. Eine Spinnlösung, die technische Bedeutung hatte, ließ sich jedoch erst aus den sogenannten acetonlöslichen Acetaten herstellen, wozu Miles 1904 sowie die Farbenfabriken Friedr. Bayer & Co 1905 die Wege wiesen. Die ersten Spinnpatente auf Acetatseide stammen von Wagner 1901 und von Mork, Little und Walker aus dem Jahre 1902.
Aus den kleinen Anfängen war eine rasch aufstrebende Kunstseidenindustrie entstanden. In Frankreich (Besancon) sowie in der Schweiz (Spreitenbach) wurden durch Chardonnet Fabriken gegründet; in Deutschland entstanden 1899 die „Vereinigte Glanzstoff-Fabriken A.G.“ (Kupferseide) und 1900 die „Vereinigte Kunstseidenfabriken A.G.“ in Frankfurt a. M. (Nitroseide). Auch in anderen Ländern entstanden Tochterfabriken, sowohl für Chardonnet, wie für Kupferseide.
Die Entdeckung des Viskoseverfahrens brachte die nächste Umwälzung, indem etwa um die Jahrhundertwende die Firma Courtaulds in England, sowie die Fürst Guido Donnersmarkschen Kunstseiden- und Acetatwerke in Sydowsaue, die Viskosepatente von Cross und Stearn erwarben. In Deutschland wurde 1905 von Müller und Koppe das „Müllerbad“ (Säure mit Salzzusatz) als Spinnbad für Viskoseseide entdeckt und daraufhin übernahm 1911 die Vereinigte Glanzstoff-Fabriken A.G. die Fabrik Sydowsaue, sowie das Viskoseverfahren; die Firma verließ damit das Kupferverfahren und wandte sich endgültig der Herstellung von Viskoseseide zu.
Die folgenden Jahre brachten unzählige wichtige Verbesserungen auf allen Gebieten, von denen einzelne weiter unten genannt werden. Als grundlegend sei hier noch der Ausbau des sogenannten Zentrifugenspinnverfahrens erwähnt, dem die Erfindung der Spinnzentrifuge durch Topham vom Jahre 1900 zugrunde liegt.
Der Kupferseideprozess erhielt neuen Antrieb durch die Übertragung des Streckspinnverfahrens für Nitroseide von Lehner vom Jahre 1890 auf Schweizersche Lösungen durch Tiele im Jahre 1901. Dieser Erfinder verbesserte das Verfahren in zahlreichen Patenten; auf dieser Grundlage arbeitete weiterhin die Firma J. P. Bemberg A.G., die im Jahre 1907 die Spinnmaschine konstruierte, die in ihren wesentlichen Teilen auch heute noch verwendet wird.
Der Bedarf an Acetylcelluloselacken während des Krieges hatte besonders auf Seiten der Entente zur Gründung großer Fabriken durch die Brüder Dreyfus geführt, die nach dessen Beendigung die fabrikmäßige Herstellung von Acetatseide in Spondon (England) in die Hand nahmen; unter Zusammenarbeit mit Clavel (Basel), der neben anderen Forschern (besonders Green in England) die Färbeschwierigkeiten zu überwinden lehrte, bauten sie in der British Celanese Comp. und ihren Tochtergesellschaften das erste große und erfolgreiche Acetatseidenunternehmen auf.
Auch zahlreiche andere Cellulosederivate hat man zur Herstellung von Kunstseide erprobt. Aussicht auf Erfolg hatte evtl. die sogenannte Ätherseide (Alkylcellulose) von Lilienfeld. Aber auch die Viskoseseideherstellung wurde weiterentwickelt; hier gelang nach dem Kriege die Anwendung des Streckspinnverfahrens unter Verarbeitung „ungereifter Viskose“, wobei äußerst feine Titer erzielt werden können; ferner ist das Spinnen von Viskoselösungen in starke Schwefelsäure nach Lilienfeld zu erwähnen, wodurch die Festigkeit enorm gesteigert werden kann. Endlich sei die Herstellung röhrchenförmiger Kunstseide aus Regeneratcellulose und Viskose, angeführt.
Diese Darstellung der geschichtlichen Entwicklung hat keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Es wurde lediglich versucht, in skizzenhaften Strichen die Hauptlinien des großen Aufschwunges nachzuziehen, um zu zeigen, welche mühsame Aufbauarbeit notwendig war, um zu der heutigen Bedeutung der Kunstseide zu gelangen.